Mitteilung von Munich Cowboys vom 21.01.2007

WM-Teilnahme als Royal Flush

American Football und Poker haben eines gemeinsam: Es sind Spiele mit zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten. Für Stephan Seidel, Football-Spieler der Munich Cowboys, Grund genug, in seiner Freizeit gelegentlich der Pokersucht zu verfallen. Homegames nennen sich private Pokerrunden, die auch in Deutschland zunehmend beliebter werden. Wenn er pokere, gehe es nicht um Geld, betont Stephan Seidel. Nur um die Ehre. Was aber seine Football-Karriere betrifft, hält der 24-jährige Münchner derzeit einen Royal Flush in Händen: Beim entscheidenden WM-Qualifikationsspiel, dem 68:7 im vorigen August gegen Dänemark, trug er zum ersten Mal das schwarz-rot-goldene Trikot der Nationalmannschaft. Seidel kam in drei von vier Vierteln zum Einsatz und kassierte dabei keinen einzigen Pass. Konstante Leistungen vorausgesetzt hat Stephan Seidel beste Chancen, im Juli mit dem A-Kader zur Football-WM nach Japan zu fliegen.

Anfang Januar bekam Seidel vom Koordinator der deutschen Abwehr, Walter Rohlfing, Grünes Licht, als Nationalspieler auch in der Zweiten Bundesliga spielen zu dürfen. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Unter Ex-Bundestrainer Martin Hanselmann galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass Nationalspieler für ein Erstliga-Team auflaufen müssen. Stephan Seidel hatte sich eigentlich schon damit abgefunden, 200 Kilometer zwischen München und Schwäbisch Hall hin- und herzupendeln. „Die Schwäbisch Hall Unicorns hätten mir das Spritgeld bezahlt“, erzählt er.

Um sich die lästige Fahrerei zu ersparen, muss er zwei Bedingungen erfüllen: Erstens braucht Seidel einen guten Position Coach bei den Cowboys. Zweitens soll er gleichmäßig gute Leistungen bis zur Weltmeisterschaft zeigen. Seidel freut sich, wieder für die Cowboys zu spielen, obwohl die Saison 2006 „ein Desaster“ gewesen sei. In der Bundesliga ständig verprügelt zu werden und sich gleichzeitig für den WM-Kader zu empfehlen zu wollen – eigentlich unmöglich. „Dass Stephan es in einer schlimmen Saison für die Cowboys geschafft hat, ist umso höher zu bewerten“, lobt Martin Hanselmann, der ihm die Chance im Nationalkader gab. „Für alle jungen Cowboys-Spieler sollte Stephans Leistung ein Ansporn sein“.

Den Ausschlag für die Berufung in den Nationalkader gab das Interconference Match der Munich Cowboys gegen Cologne Falcons. Das war Mitte Mai. Der 24-jährige Münchner musste gegen einen der stärksten Passempfänger der German Football League antreten: Simon Eisebitt. Stephan Seidels Auftritt überzeugte Trainer und Scouts gleichermaßen. Zunächst wurde er zu einer Talentsichtung in Königsbrunn bei Augsburg eingeladen, anschließend zu einem Lehrgang im fränkischen Rothenburg, eine Woche später folgte sein Einsatz im WM-Qualifikationsspiel gegen Dänemark in Flensburg. Hoch gepokert, viel gewonnen.

Dabei sah es zu Beginn seiner Karriere noch nicht danach aus, als sollte diese ihn bis in die Nationalmannschaft führen. Immer wieder wurde der Münchner Footballer in seiner Entwicklung zurückgeworfen. „Anfangs habe ich sogar Angst gehabt, gegen andere Spieler zu rennen“, erzählt er. „Für mich war das eine Riesen-Überwindung.“ Dreimal musste Stephan Seidel nach schweren Verletzungen operiert werden. Die schlimmste, einen Schultersehnen-Riss, erlitt er, als er noch bei den Cowboys Juniors auf der Receiver-Position spielte. Später laborierte er für längere Zeit an einem gerissenen Meniskus. Die dritte Operation folgte im Juli 2005 – ein  gesprengtes Handgelenk.

Und dann die Sache mit seinem Vater, der nach einem Herzinfarkt in einem Münchner Pflegeheim im Wachkoma liegt. Seit sein Vater zwischen Leben und Tod schwebt, muss Stephan Seidel Verantwortung für die Familie übernehmen. Sein Studium hat er für ein halbes Jahr unterbrochen.  Das Footballspielen, sagt er, sei ein wichtiger Ausgleich für ihn. Das Schicksal seines Vaters habe dazu geführt, dass er noch härter als vorher trainiert habe. „Dadurch bin ich schneller und körperlich stärker geworden“.

Vier- bis fünfmal Krafttraining pro Woche stehen auf seinem Trainingsplan. Zudem Leichtathletik, beim Universitäts-Sportclub München. Als Jugendlicher, bis zu seinem 18. Geburtstag, ist er die 110-Meter-Hürden gelaufen, wechselte erst spät zum American Football. Heute erkennt er in diesen Anfängen eine „vernünftige Grundausbildung“. Mit einer Größe von 1,84 Meter und einem Gewicht von 84 Kilogramm, meint der langjährige Bundestrainer Martin Hanselmann, bringe Seidel geradezu ideale Voraussetzungen für seine Position des Corner Backs mit: „Stephan ist ein athletischer Typ, der Schnellkraft und technische Fähigkeiten besitzt. Er ist ein intelligenter Spieler, der Spielsituationen gut erkennt und schnell reagiert.“ Cowboys-Routinier Gunther Renner, früher selbst einmal Nationalspieler der Defense, sieht in Seidel „einen jungen, talentierten Spieler, der noch mehr aus sich herausholen kann“.

Genau das will Stephan Seidel versuchen. Gemeinsam mit Volker Schenk, seit zwei Jahren Defense Coordinator der Munich Cowboys. „Er will uns auf unseren Positionen besser machen“, sagt Seidel. Mit einem Sonder-Training, einmal wöchentlich, zusammen mit zwei oder drei weiteren Cowboys-Spielern. Football, Familie, Studium – nur wenn er in München bleiben kann, bekommt Stephan Seidel das alles auf die Reihe. In München kann er weiter für eine Sport-Event-Firma und ein Fitness-Studio arbeiten. Zudem will der Student der Sportwissenschaft dem Cowboys-Vorstand im Bereich Marketing und Merchandising helfen. Mit dem Hintergedanken, sich nach seiner Spieler-Karriere im Management der NFL Europa zu bewerben.

Für Ende März steht ein weiteres Trainingscamp mit der Nationalmannschaft groß in seinem Kalender. Vor dem Abflug nach Japan, Anfang Juli, das abschließende Trainingslager. Irgendwann dazwischen beginnt die Saison in der Zweiten Bundesliga mit den Cowboys. Die soll weniger unheilvoll enden als die Vorige, hofft Stephan Seidel. Dazu bräuchten die Cowboys einen „Cheftrainer mit Autorität“, sagt er. Und noch etwas: „Sollte sich der Vorstand entschließen, einen Spieler aus den USA zu holen, dann bitte einen Offense Liner – keinen Quarterback. Ich habe Vertrauen in unsere deutschen Quarterbacks.“ Die richtige Karte müsse her, soll das heißen. Denn wie beim Pokerspiel geht es auch im American Football um die stärkste Kombination. Und die beste Pokerhand gewinnt.